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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2012/29)

Zusammenfassung des Urteils IV 2012/29: Versicherungsgericht

A. hat sich im November 2005 bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen gemeldet, um Leistungen der Invalidenversicherung zu beantragen, aufgrund einer Lendenwirbelfraktur im Oktober 2004. Nach mehreren Gutachten und Untersuchungen wurde festgestellt, dass A. zu 50 Prozent arbeitsfähig sei. Es kam zu Observationen durch die Haftpflichtversicherung, die zu weiteren Untersuchungen führten. Trotz mehrerer Aufforderungen zur Mitwirkung bei weiteren medizinischen Abklärungen, weigerte sich A., woraufhin die IV-Stelle das Leistungsgesuch ablehnte. A. reichte Beschwerde ein, die letztendlich erfolgreich war, da die IV-Stelle nicht korrekt vorgegangen war und das Verfahren weiterführen musste. Die Gerichtskosten in Höhe von CHF 600 trägt die unterliegende IV-Stelle, und A. erhält eine Parteientschädigung von CHF 3'500.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2012/29

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2012/29
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2012/29 vom 13.08.2014 (SG)
Datum:13.08.2014
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 43 Abs. 3 ATSG. Art. 13 Abs. 2 VwVG. Mitwirkungspflicht. Nichteintreten. In unentschuldbarer Weise wird eine Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsabklärung verletzt, wenn die versicherte Person an einer notwendigen Abklärungsmassnahme nicht mitwirkt, obwohl ihr dies zumutbar wäre. Ob eine Mitwirkungspflichtverletzung sanktioniert werden kann, beurteilt sich also – wie in den Anwendungsfällen von Art. 13 Abs. 2 VwVG – anhand der Notwendigkeit und Zumutbarkeit der fraglichen Abklärungsmassnahme (a.M. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 43 N 51, und Christoph Auer, in: Auer/Müller/Schindler, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2008, Art. 13 N 23).(Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. August 2014, IV 2012/29).
Schlagwörter: IV-act; Begutachtung; Recht; IV-Stelle; Mitwirkung; Akten; Verfügung; MEDAS; Mitwirkungspflicht; Ostschweiz; Abklärung; Verfahren; Haftpflichtversicherung; Sachverständige; Gutachten; Sachverständigen; Verhalten; Beschwerdeführers; Entscheid; Dokumente; Rechtsvertreter; ührte
Rechtsnorm: Art. 13 VwVG ;Art. 43 ATSG ;Art. 47 UVG ;Art. 56 ATSG ;
Referenz BGE:108 V 229; 137 V 210;
Kommentar:
Christoph Auer, Müller, Schindler, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Art. 13, 2008

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2012/29

Entscheid Versicherungsgericht, 13.08.2014

Vizepräsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Marie Löhrer; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Entscheid vom 13. August 2014

in Sachen

A. ,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Simon Kehl, Poststrasse 22, Postfach 118, 9410 Heiden,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

betreffend

IV-Leistungen (Nichteintreten) Sachverhalt:

A.

    1. A. meldete sich im November 2005 unter Hinweis auf eine im Oktober 2004 erlittene Lendenwirbelfraktur zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen an (IV-act. 1). Gemäss einem im Auftrag der obligatorischen Unfallversicherung erstellten Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Ostschweiz vom 24. Oktober 2006 (IV-act. 68) litt der Ver­ sicherte im Wesentlichen an einem chronischen lumbalen Schmerzsyndrom und an einer reaktiv durch den Unfall ausgelösten ängstlich-depressiven Entwicklung. Am

      2. März 2010 beauftragte die IV-Stelle die MEDAS Ostschweiz mit der Erstellung eines Verlaufsgutachtens (IV-act. 135). Dieses Gutachten wurde am 2. Juli 2010 erstellt (IV- act. 140). Die Sachverständigen führten darin aus, der Gesundheitszustand des Versicherten habe sich seit der letzten Begutachtung im Jahr 2006 nicht wesentlich verändert. Der Versicherte sei für leidensadaptierte Tätigkeiten zu 50 Prozent arbeitsfähig. Ein Arzt des IV-internen regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) notierte am

      13. Juli 2010, dass auf dieses Gutachten vollumfänglich abgestellt werden könne (IV- act. 141).

    2. Am 16. August 2010 erfuhr die Sachbearbeiterin der IV-Stelle, dass der Versicherte von der Haftpflichtversicherung observiert worden war (IV-act. 144). Sie ging davon

      aus, dass der Versicherte gemäss den Überwachungsergebnissen in der Lage gewesen sei, mehrmals ein Fahrzeug fast ohne Pausen in sein Herkunftsland zu lenken, wobei die Fahrten jeweils etwa acht Stunden gedauert hätten. Dem

      Observationsbericht vom 30. Juli 2010, den die IV-Stelle in der Folge zu den Akten nahm (IV-act. 158), lagen unter anderem Datenträger mit Videoaufnahmen und diverse Versicherungspolicen, die offenbar jeweils anlässlich von Grenzübertritten ausgestellt worden waren, bei (IV-act. 154). Am 12. Oktober 2010 konfrontierte die IV-Stelle den Versicherten im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit den Observationsergebnissen (IV-act. 162 f.).

    3. Am 25. Oktober 2010 teilte die IV-Stelle dem Versicherten mit, dass sie die MEDAS Ostschweiz mit der Beantwortung von Zusatzfragen unter Berücksichtigung der Observationsergebnisse beauftragen werde (IV-act. 166). Am 10. Dezember 2010 liess der Versicherte beanstanden (IV-act. 179), dass die IV-Stelle der Haftpflichtversicherung die Möglichkeit eingeräumt hatte, Zusatzfragen an die MEDAS Ostschweiz zu stellen. Weiter liess er die Herausgabe des gesamten, ungeschnittenen Videomaterials beantragen. Er liess ausführen, das „Flickwerk“ von Videoaufnahmen von gerade einmal 16 Minuten Dauer gebe die Ereignisse der gefilmten, insgesamt 14 Stunden dauernden Fahrt nachweislich falsch wieder. Die Versicherungsnachweise könnten nur widerrechtlich erlangt worden sein, weshalb sie aus dem Recht zu weisen seien. Weiter fehlten Unterlagen zu offenbar von der Haftpflichtversicherung bereits in den Jahren 2006 und 2008 durchgeführten Überwachungen. Diese seien zu den Akten zu nehmen. Der zuletzt zuständige Mitarbeiter der IV-Stelle sei schliesslich offensichtlich befangen, wie sich dem Protokoll des Konfrontationsgespräches entnehmen lasse. Ausserdem habe dieser Mitarbeiter B. von der Haftpflichtversicherung rechtswidrigerweise Parteirechte eingeräumt, während er sie dem Versicherten verweigert habe. Diesem sei nämlich keine Gelegenheit gegeben worden, selbst Zusatzfragen an die Sachverständigen zu stellen. Deshalb müsse

      diesem Mitarbeiter das Dossier entzogen werden. Soweit diesen Anträgen nicht gefolgt werde, sei eine entsprechende rechtsmittelfähige Verfügung zu erlassen. Die IV-Stelle teilte der MEDAS Ostschweiz in der Folge am 20. Dezember 2010 mit, dass sie zu den Zusatzfragen der Haftpflichtversicherung keine Stellung beziehen dürfe (IV-act. 180). Gleichentags ersuchte sie die Haftpflichtversicherung um die Zustellung der Akten zu den in den Jahren 2006 und 2008 durchgeführten Observationen (IV-act. 181).

    4. Am 16. Februar 2011 teilte die MEDAS Ostschweiz der IV-Stelle mit (IV-act. 191),

      dass sie die Begutachtung nicht werde durchführen können. Ihre Sachverständigen

      führten aus, der psychiatrische Consiliarius, der den Versicherten begutachtet habe, wohne im selben (kleinen) Dorf wie der Versicherte und befürchte deshalb, befangen zu sein. Die Sachverständigen erachteten eine psychiatrische Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen als nicht zweckmässig; sie empfahlen die Begutachtung durch eine andere, entfernte MEDAS. Am 23. März 2011 beauftragte die IV-Stelle die Ärztliches Begutachtungsinstitut (ABI) GmbH mit der Abklärung des Versicherten (IV- act. 193). Am 27. April 2011 liess der Versicherte nochmals um die Entfernung der seines Erachtens widerrechtlich erlangten Dokumente aus den Akten und um die Zustellung des ungeschnittenen Videomaterials ersuchen (IV-act. 199). Ausserdem bestand sein Rechtsvertreter darauf, dass die Begutachtung durch die MEDAS Ostschweiz vorzunehmen sei. Er machte geltend, die Ausführungen der Sachverständigen der MEDAS Ostschweiz zu einer möglichen Befangenheit seien nicht nachvollziehbar. Ansonsten hätte der psychiatrische Consiliarius ja auch das erste Teilgutachten gar nicht erstellen dürfen. Am 3. Mai 2011 teilte die IV-Stelle mit, dass sie auf einer Begutachtung durch die ABI GmbH bestehe (IV-act. 200). Am 18. Mai 2011 antwortete der Rechtsvertreter des Versicherten, er erwarte eine begründete Stellungnahme zu seinem Schreiben vom 27. April 2011 (IV-act. 201). Die IV-Stelle

      teilte ihm am 24. Mai 2011 mit (IV-act. 202), es seien keine widerrechtlichen Beweismittel erlangt worden. Weiter sei nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Erkenntnisse aus den ungeschnittenen Videoaufnahmen sollten gewonnen werden können, weshalb auf deren Beizug verzichtet werde. Die MEDAS Ostschweiz könne nicht gezwungen werden, die Begutachtung durchzuführen; die Begutachtung werde deshalb durch die ABI GmbH durchgeführt. Der Versicherte müsse bis zum 15. Juni 2011 schriftlich bestätigen, dass er den Begutachtungstermin am 13. Juli 2011 wahrnehmen werde. Sollte er sich der Begutachtung widersetzen, werde sie aufgrund der Akten verfügen die Erhebungen einstellen und Nichteintreten

      beschliessen.

    5. Am 1. Juni 2011 liess der Versicherte nochmals an seinen Standpunkten festhalten (IV-act. 203). Am 10. Juni 2011 teilte eine Sekretärin der ABI GmbH der IV-Stelle mit

(IV-act. 205), dass der Versicherte angerufen und mitgeteilt habe, er selber würde sich durchaus begutachten lassen. Sein Rechtsvertreter finde dies aber nicht angebracht und er tue, was dieser ihm sage. Am 15. Juni 2011 teilte der Rechtsvertreter des Versicherten mit (IV-act. 209), dass sein Klient grundsätzlich bereit sei, sich weiteren

medizinischen Abklärungen zu unterziehen. Hierfür müssten allerdings zuerst die Akten vervollständigt und die widerrechtlich erlangten Dokumente aus den Akten entfernt werden. Da sich die IV-Stelle weigere, dies zu tun entsprechende Verfügungen zu erlassen, beantrage er eine Verlängerung der Überlegungsfrist bis zum 16. Juli 2011. Am 17. Juni 2011 ersuchte die IV-Stelle die Haftpflichtversicherung (IV-act. 210), ihr zu bestätigen, dass die Versicherungszertifikate legal beschafft worden seien, und ihr mitzuteilen, worauf der Anfangsverdacht beruht habe. Die Haftpflichtversicherung antwortete am 30. Juni 2011 (IV-act. 211), das Ermittlungsbüro habe bestätigt, dass die Dokumente

legal beschafft worden seien. Der Anfangsverdacht habe auf einem widersprüchlichen Verhalten des Versicherten beruht. Am 8. Juli 2011 liess die IV-Stelle dem Versicherten eine Kopie dieses Schreibens zugehen (IV-act. 213). Sie teilte ihm mit, dass sie keine Dokumente aus den Akten entfernen und unverändert am Begutachtungsauftrag festhalten werde. Am 13. Juli 2011 teilte die ABI GmbH der IV-Stelle mit, dass der Versicherte unentschuldigt nicht zur Begutachtung erschienen sei (IV-act. 214). Der Rechtsvertreter des Versicherten wies die IV-Stelle am 14. Juli 2011 auf die vom Bundesgericht neu eingeräumte Möglichkeit, materielle Einwände gegen eine Begutachtung zu erheben, hin (IV-act. 215). Am 19. August 2011 liess der Versicherte nochmals an seinen Standpunkten festhalten (IV-act. 216). Am 7. Dezember 2011 verfügte die IV-Stelle das Nichteintreten auf das Leistungsgesuch wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht (IV-act. 220). Zur Begründung führte sie aus, sie habe den Versicherten gemahnt, an der Begutachtung teilzunehmen. Trotzdem sei er nicht zur Begutachtung erschienen. Die Gründe, die er dafür angeführt habe, entschuldigten sein Verhalten nicht, weshalb er seine Mitwirkungspflicht unentschuldbar verletzt habe. Als mildeste Massnahme sei deshalb das Verfahren einzustellen bzw. das Nichteintreten auf das Leistungsgesuch zu verfügen.

B.

    1. Mit einer Beschwerde vom 23. Januar 2012 (act. G 1) liess der Versicherte (nachfolgend: Beschwerdeführer) die Aufhebung der Verfügung vom 7. Dezember 2011, die Entfernung der Aktenstücke Nr. 154–158 und einen Rentenentscheid ohne weitere medizinische Abklärungen, eventualiter das Stellen einer Zusatzfrage an die MEDAS Ostschweiz („Ergeben sich gestützt auf die beiliegenden Akten im Vergleich zu

      Ihrer Beurteilung vom 2. Juli 2010 abweichende Beurteilungen?“) sowie den Ausstand sämtlicher bislang mit dem vorliegenden Fall befassten Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin beantragen. Zur Begründung liess er ausführen, die Sachverhaltsdarstellung in der angefochtenen Verfügung sei unvollständig und unrichtig. Es lägen zudem Anhaltspunkte dafür vor, dass die Aktenführung inkorrekt erfolgt sei und die mit dem Fall befassten Mitarbeiter voreingenommen seien. Weiter sei es unzulässig gewesen, der neusten bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den Parteirechten der Versicherten im Zusammenhang mit medizinischen Begutachtungen nicht zu folgen. Nach der Mahnung zur Mitwirkung sei dem Beschwerdeführer eine Fristverlängerung eingeräumt worden. Er sei folglich beim Erlass der angefochtenen Verfügung gar nicht säumig gewesen. Ohnehin hätte die Beschwerdegegnerin aufgrund der Akten entscheiden können. Das Verhalten des Beschwerdeführers sei gar nicht unentschuldbar gewesen, zumal die Begutachtung beim damaligen Aktenstand nicht zumutbar gewesen sei. Die Grenzversicherungspolicen hätten nur durch Bestechung und Amtsgeheimnisverletzung beim Zoll erlangt werden können. Daran ändere die blosse Behauptung des Ermittlungsbüros, die Dokumente seien legal beschafft worden, selbstverständlich nichts. Auch die Ausführungen der Haftpflichtversicherung zum angeblichen Anfangsverdacht seien unredlich und falsch. Anhand der beiden beweiskräftigen Gutachten und der Berichte der behandelnden Ärzte könne jedenfalls über die Rentenfrage entschieden werden. Die Einholung einer

      „second opinion“ sei unzulässig.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 19. April 2012 die Abweisung der Beschwerde (act. G 6). Zur Begründung führte sie aus, der Beschwerdeführer habe im Verwaltungsverfahren nur ein Ausstandsbegehren betreffend eine später nicht mehr am Verfahren beteiligte Person gestellt. Ansonsten habe er kein Ausstandsbegehren gestellt. Er könne deshalb nun nicht im Rahmen der Beschwerde den Ausstand sämtlicher mit dem Fall befasster Mitarbeiter verlangen. Die Ausführungen zur behaupteten Befangenheit seien zudem nicht haltbar. Die Mutmassungen seien konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Auch die Rügen betreffend Verfahrensfehler seien haltlos.

    3. Am 15. November 2012 liess der Beschwerdeführer zusätzlich die Entfernung der Aktenstücke Nr. 162 f., den Erlass einer Verfügung zur Frage der Edition des

Dokumentes „Falljournal“ und die Zustellung weiterer Akten beantragen (act. G 18). Zur Begründung liess er ausführen, eine Kontrolle der zwischenzeitlich zugestellten BVM- Akten (Dossier „Betrug und Versicherungsmissbrauch“) habe gezeigt, dass auch diese unvollständig seien. So fehle beispielsweise eine E-Mail vom 20. Oktober 2010. Die Beschwerdegegnerin entgegnete am 17. Januar 2013 (act. G 22), letztlich sei entscheidend, ob der Beschwerdeführer aus entschuldbaren Gründen der Begutachtung fern geblieben sei. Da dies nicht der Fall sei, sei seine Beschwerde abzuweisen. Sein Rechtsvertreter unternehme bloss alles Mögliche, um das Verfahren zu behindern, was keinen Schutz verdiene.

Erwägungen:

1.

    1. Mit der angefochtenen Verfügung vom 7. Dezember 2011 hat die Beschwerdegegnerin auf eine ihres Erachtens unentschuldbare Verletzung der Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bei der Sachverhaltsabklärung (Art. 43

      Abs. 3 ATSG) reagiert, indem sie nicht auf dessen Leistungsgesuch eingetreten ist. Da sie natürlich längst auf das Rentenbegehren eingetreten war, kann der Wortlaut des Verfügungsdispositivs nicht ernst genommen werden. Effektiv hat die Beschwerdegegnerin das Verwaltungsverfahren zur Prüfung des Rentenbegehrens eingestellt. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens kann nur die Frage bilden, ob das Verhalten des Beschwerdeführers zu Recht mit der Einstellung des Verwaltungsverfahrens sanktioniert worden ist, denn der Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens kann nicht weiter sein als der Gegenstand der angefochtenen Verfügung. Auf die Anträge des Beschwerdeführers, die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, bestimmte Dokumente aus den Akten zu entfernen zu den Akten zu nehmen, ohne weitere medizinische Abklärung über das Rentenbegehren zu verfügen die medizinische Abklärung auf bestimmte Punkte zu beschränken, kann deshalb nicht eingetreten werden, da sie nicht Gegenstand der angefochtenen Verfügung gebildet haben. Zu beurteilen ist nur der Antrag, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben.

    2. Gemäss Art. 56 Abs. 2 ATSG kann auch dann Beschwerde erhoben werden, wenn ein Versicherungsträger entgegen dem Begehren der versicherten Person keine Verfügung erlässt. Diese Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde bezweckt, den Versicherungsträger zu zwingen, über ein Begehren zu verfügen. Der Gegenstand eines Rechtsverweigerungs- Rechtsverzögerungsverfahrens muss deshalb auf die Frage beschränkt sein, ob eine Verfügung hätte erlassen werden müssen, d.h. der Inhalt der verlangten Verfügung kann nicht Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung bilden. Der Beschwerdeführer hat zwar im Verwaltungsverfahren mehrfach für den Fall, dass seinen (Verfahrens-) Anträgen nicht gefolgt werden sollte, den Erlass einer anfechtbaren Verfügung verlangt (vgl. IV-act. 203, 209 und 216). Die Beschwerdegegnerin ist diesem Ansinnen offenbar nicht nachgekommen. Den Beschwerdeanträgen kann aber nicht entnommen werden, dass der Beschwerdeführer nun eine Rechtsverweigerung rügen, d.h. vom Versicherungsgericht verlangen würde, dass es eine Rechtsverweigerung feststelle und dann die Beschwerdegegnerin anweise, über seine (Verfahrens-) Anträge zu verfügen. Stattdessen hat der Beschwerdeführer dem Versicherungsgericht beantragt, es habe die Beschwerdegegnerin anzuweisen, sich seinen (Verfahrens-) Anträgen gemäss zu verhalten. Mit diesen - ihrer Natur nach wohl aufsichtsrechtlichen - Anträgen rügt der Beschwerdeführer also keine Rechtsverweigerung, so dass auf sie auch nicht gestützt auf Art. 56 Abs. 2 ATSG eingetreten werden kann.

2.

    1. Sanktioniert werden kann nur eine Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsabklärung, die „in unentschuldbarer Weise“ erfolgt ist (Art. 43 Abs. 3 ATSG). Gemäss Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 43 N 51, sollen Mitwirkungspflichtverletzungen sanktioniert werden dürfen, wenn das Verhalten der versicherten Person „nicht mehr nachvollziehbar“ ist, also etwa dann, wenn „ein Rechtfertigungsgrund nicht einmal ansatzweise erkennbar ist wenn das Verhalten schlechthin unverständlich ist“. Kieser zufolge sind die Voraussetzungen für eine Sanktion im Anwendungsbereich von Art. 43 Abs. 3 ATSG strenger als etwa im Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 VwVG, der den Bundesverwaltungsbehörden erlaubt, auf Begehren nicht einzutreten, wenn die Parteien die „notwendige und zumutbare“ Mitwirkung verweigern (gleicher Meinung: Christoph Auer, in: Auer/Müller/

      Schindler, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2008,

      Art. 13 N 23). Der Wortlaut von Art. 43 Abs. 3 ATSG („in unentschuldbarer Weise“ anstelle von „obwohl notwendig und zumutbar“) legt diese Interpretation zwar nahe. Im Bericht der Kommission des Ständerates zur parlamentarischen Initiative „Allgemeiner Teil Sozialversicherungsrecht“ vom 27. September 1990 (BBl 1991 II 185 ff.) heisst es allerdings: „Die Folgen einer schuldhaften Verletzung der Mitwirkungspflicht, nämlich die Einstellung der Erhebungen und der Entscheid aufgrund der vorhandenen Akten, sind schon heute in Einzelgesetzen vorgesehen (z.B. Art. 47 Abs. 3 UVG). Ausserdem kann in solchen Fällen im Sinne der Rechtsprechung (BGE 108 V 229) Nichteintreten verfügt werden“ (BBl 1991 II 261). Der Gesetzgeber hat also in Bezug auf die Sanktionierung von Verletzungen der Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsabklärung an der bisherigen Rechtslage festhalten wollen, wie der explizite Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung klar belegt. Im erwähnten Entscheid (BGE 108 V

      229) hatte das Bundesgericht festgehalten, dass in einem IV-Verfahren anstelle des im damaligen Art. 72 Abs. 3 IVV vorgesehen Entscheides aufgrund der Akten (bei Verletzungen „ohne genügende Entschuldigung“) auch ein Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 13 Abs. 2 VwVG erlassen werden könne, wenn das kantonale Recht diese Möglichkeit erlaube. Dabei hatte das Bundesgericht die beiden Formen von

      „sanktionswürdigen“ Mitwirkungspflichtverletzungen („ohne genügende Entschuldigung“ und „obwohl notwendig und zumutbar“) als austauschbar bzw. äquivalent qualifiziert. Dieser Auffassung ist der Gesetzgeber gefolgt, indem er die Rechtsprechung übernommen und beide Sanktionsformen für ein und dieselbe Kategorie von Mitwirkungspflichtverletzungen vorgesehen hat. Das bedeutet, dass „in unentschuldbarer Weise“ nach dem Willen des Gesetzgebers nichts anderes bedeutet als „obwohl notwendig und zumutbar“. Mit der Wahl des bei der Redaktion von Art. 43 Abs. 3 ATSG gewählten Ausdrucks („in unentschuldbarer Weise“) hat der Gesetzgeber also nicht einen anderen Massstab als in Art. 13 Abs. 2 VwVG anwenden wollen. Vielmehr dürfte die Abweichung vom Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 VwVG unbewusst erfolgt sein, indem anstelle des präziseren terminus technicus ein Begriff aus der Umgangssprache verwendet worden ist. Die historische Auslegung ergibt folglich ein anderes Ergebnis als die grammatikalische Interpretation. Sie deckt sich aber mit dem Ergebnis der teleologischen Auslegung, denn würde der von Kieser unterstellte strenge Massstab an die Zulässigkeit einer Sanktion angelegt, wäre der Anwendungsbereich

      von Art. 43 Abs. 3 ATSG wohl nur noch sehr klein. In der Praxis sind nämlich die Fälle

      „nicht mehr nachvollziehbaren bzw. schlechthin unverständlichen Verhaltens“ äusserst selten. Die Regel bilden vielmehr die Fälle, in denen zwar ein gewisses Verständnis für die Beweggründe der Versicherten aufgebracht werden kann, es aber objektiv betrachtet dennoch zumutbar gewesen ist, bei den notwendigen Abklärungsmassnahmen mitzuwirken. Genau für diese Fälle hat der Gesetzgeber den Versicherungsträgern ein Mittel in die Hand geben wollen, die Versicherten zur Mitwirkung zu bewegen. Dürften Mitwirkungspflichtverletzungen erst sanktioniert werden, wenn das Verhalten der Versicherten schlechthin unverständlich wäre, sähen sich die Versicherungsträger mit dem unlösbaren Problem konfrontiert, die Versicherten nicht zur Mitwirkung bei an sich notwendigen und zumutbaren Abklärungsmassnahmen veranlassen zu können. Dies kann offenkundig nicht der Wille des Gesetzgebers sein und wird im Übrigen in der Praxis auch keineswegs so gehandhabt. Schliesslich ist auch kein Grund ersichtlich, im Anwendungsbereich von Art. 43 Abs. 3 ATSG einen anderen Massstab anzulegen als im Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 VwVG. Auch aus systematischer Sicht kann folglich der Ansicht von Kieser und Auer nicht gefolgt werden. Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Mitwirkungspflichtverletzung „in unentschuldbarer Weise“ erfolgt ist, ist also entscheidend, ob der versicherten Person die Mitwirkung an einer notwendigen Abklärungsmassnahme zumutbar gewesen ist.

    2. Die von der Beschwerdegegnerin vorgesehene Begutachtung unter Berücksichtigung der Ergebnisse der von der Haftpflichtversicherung durchgeführten verdeckten Ermittlung erweist sich als notwendig. Über das Rentengesuch des Beschwerdeführers kann nämlich nicht entschieden werden, solange nicht eine überwiegend wahrscheinlich richtige medizinische Beurteilung vorliegt. Da die Ergebnisse der verdeckten Ermittlung (insbesondere der Verdacht, der Beschwerdeführer sei in der Lage gewesen, ein Auto während über zehn Stunden am Stück zu lenken) jedenfalls die Frage aufkommen lassen, ob die Sachverständigen, welche die beiden ersten Gutachten verfasst haben, ihrer Beurteilung den richtigen Sachverhalt zugrunde gelegt haben - im weitesten Sinne - getäuscht worden sind, muss geklärt werden, ob die Ergebnisse der verdeckten Ermittlung zu einer anderen medizinischen Beurteilung führen. Hierfür wäre zwar an sich eine Ergänzung des letzten, relativ aktuellen Gutachtens der MEDAS Ostschweiz das beste Mittel gewesen.

      Da sich deren Sachverständige aber geweigert haben, den Auftrag anzunehmen, und da diese selbstverständlich nicht gezwungen werden können, den Auftrag auszuführen, hat die Beschwerdegegnerin keine andere Wahl gehabt, als eine andere MEDAS mit einer weiteren Begutachtung zu beauftragen. Auch wenn die Begründung der Sachverständigen der MEDAS Ostschweiz wenig nachvollziehbar ist (und überdies die Verwertbarkeit des vorherigen Gutachtens in Frage stellen kann),

      ändert dies nichts daran, dass die MEDAS Ostschweiz von der Beschwerdegegnerin unabhängig ist (und sein muss) und deshalb nicht gegen ihren Willen verpflichtet werden kann, die Fragen der Beschwerdegegnerin zu beantworten. An einer weiteren Begutachtung durch eine andere MEDAS führt für die Beurteilung des Rentenanspruchs des Beschwerdeführers also kein Weg vorbei; eine solche ist notwendig.

    3. Die Beschwerdegegnerin scheint allerdings die Bedeutung des Schreibens des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers vom 14. Juli 2011 (IV-act. 215) übersehen zu haben. Darin hatte dieser nämlich darauf hingewiesen, dass das Bundesgericht in einem Entscheid vom 28. Juni 2011 seine Praxis zum Verfahren im Zusammenhang mit medizinischen Gutachten grundlegend geändert habe (BGE 137 V 210). Das Bundesgericht hatte darin den Versicherten das Recht eingeräumt, gegen Begutachtungen im Voraus Einwände zu erheben und den Erlass von anfechtbaren Zwischenverfügungen zu verlangen (E. 3.4.2.6). Weiter hatte es dargestellt, dass die von ihm aufgestellten justiziablen Korrektive auf laufende Verfahren anzuwenden seien (E. 5). Demzufolge hätte die Beschwerdegegnerin also ihren Entscheid, trotz

      Einwänden des Beschwerdeführers an der Begutachtung durch die ABI GmbH am

      13. Juli 2011 festzuhalten, in die Form einer anfechtbaren Zwischenverfügung kleiden müssen. Damit hat sie dem Beschwerdeführer die Möglichkeit verweigert, sich gerichtlich gegen ihre Anordnung zu wehren. Gleichzeitig hat sie ihn dazu bringen wollen, an der erneuten medizinischen Begutachtung mitzuwirken. Hätte er sich nun am 13. Juli 2011 untersuchen lassen, hätte er sich gewissermassen selbst die Möglichkeit genommen, sich gegen die Begutachtung zu wehren. Die Beschwerdegegnerin hat vom Beschwerdeführer also mit anderen Worten verlangt, durch sein eigenes Handeln auf sein Recht, sich gerichtlich gegen die Anordnung der Untersuchung zu wehren, zu verzichten. Dies hat dem Beschwerdeführer

      natürlich nicht zugemutet werden können. Mit anderen Worten ist es dem

      Beschwerdeführer nicht zumutbar gewesen, an der fraglichen Abklärungsmassnahme mitzuwirken. Die Begutachtung durch die ABI GmbH am 13. Juli 2011 ist also nicht zumutbar gewesen, weshalb der Beschwerdeführer seine Mitwirkungspflicht nicht „in unentschuldbarer Weise“ verletzt hat.

    4. Die Fragen, ob die Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführer nach dem 24. Mai 2011 nochmals hätte zur Mitwirkung mahnen müssen, ob das Schreiben vom 8. Juli 2011 als solche weitere Mahnung qualifiziert werden kann und ob die Bedenkfrist von bloss maximal zwei Tagen zwischen der frühestens am 11. Juli 2011 erfolgten Zustellung des Schreibens vom 8. Juli 2011 und der auf den 13. Juli 2011 angesetzten Untersuchung angemessen gewesen ist, können demnach offen bleiben. Weil die Beschwerdegegnerin die Mitwirkungspflichtverletzung mangels Zumutbarkeit der Mitwirkung an der fraglichen Abklärungsmassnahme gar nicht hat sanktionieren dürfen, erübrigt sich nämlich die Frage, ob die Mitwirkungspflicht ausreichend abgemahnt worden ist. Die angefochtene Verfügung erweist sich somit als rechtswidrig, weshalb sie ersatzlos aufzuheben ist. Damit hat die Beschwerdegegnerin das Verwaltungsverfahren weiterzuführen. Eine Rückweisung an die Beschwerdegegnerin ist nicht erforderlich, da der Rentenanspruch nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gebildet hat.

3.

Die gemäss Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und aufgrund des durchschnittlichen Verfahrensaufwandes auf 600 Franken festzusetzenden Gerichtskosten sind von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu bezahlen. Dem Beschwerdeführer wird der von ihm geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer praxisgemäss eine pauschale Parteientschädigung von 3’500 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) auszurichten.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:

  1. Die Beschwerde wird, soweit auf sie eingetreten werden kann, dahingehend gut­ geheissen, dass die Verfügung vom 7. Dezember 2011 aufgehoben wird.

  2. Die Beschwerdegegnerin hat eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.-- zu bezahlen; dem Beschwerdeführer wird der von ihm geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-- zurückerstattet.

  3. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 3’500.-- auszurichten.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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